Ein neuartiger Wirkstoff hält Lymphozyten in den Lymphknoten fest und schützt so Spenderorgane vor der gefürchteten Abstoßung nach einer Transplantation.
von Stefanie Reinberger, bild der wissenschaft 2–2005
Ein Pilz brachte den Durchbruch. Findige Wissenschaftler hatten vor über 30 Jahren entdeckt, dass der Tolypocladium inflatum gams etwas Besonderes kann: Der aus Norwegen stammende Pilz produziert eine Substanz, mit der er seine Konkurrenten bekämpft – und die das Immunsystem des Menschen unterdrücken kann. Diese Entdeckung schuf die Voraussetzung für erfolgreiche Organtransplantationen.
Bekommt ein Mensch ein Spenderorgan übertragen, so reagiert sein Körper in der Regel in fataler Weise auf das lebensrettende Gewebe: Die Zellen des Abwehrsystems – die Lymphozyten – erkennen es als fremd und beginnen es zu attackieren. Die Folge ist eine manchmal tödlich endende Abstoßung des Transplantats. Die bislang einzige Lösung: Das Immunsystem wird durch Ciclosporin lahm gelegt – den Pilzwirkstoff, der vor 30 Jahren die Transplantationsmedizin revolutionierte –, oder durch ähnliche Medikamente.
Diese Strategie, die so einfach und logisch klingt, hat jedoch ihre Tücken. Die Therapeutika unterdrücken nicht nur die unerwünschte Abwehr des Spenderorgans, sondern vereiteln auch die Immunreaktion gegen Bakterien, Viren und andere Erreger, und die frisch operierten, oft ohnehin geschwächten Patienten sind Infektionskrankheiten schutzlos ausgeliefert. Natürlich versuchen Ärzte dem entgegenzuwirken, etwa durch die gezielte Gabe vorbeugender Antibiotika. Außerdem müssen die Patienten verstärkten Ansteckungsgefahren, zum Beispiel großen Menschenansammlungen, aus dem Weg gehen. „Trotzdem leiden etwa 20 bis 30 Prozent aller Transplantierten im ersten Jahr mindestens einmal an einer teils schweren Infektion“, sagt Dr. Jan Schmidt, Leiter der Sektion Nieren- und Pankreastransplantation des Heidelberger Transplantationszentrums, „und die kann im schlimmsten Fall tödlich enden.“
Jetzt ist es wieder ein Pilz, der die Transplantationen von Niere, Leber und Co ein weites Stück nach vorne bringt. Denn der neue Wirkstoff arbeitet völlig anders als sein Vorläufer, und das weckt Hoffnung auf eine Behandlung mit weniger Nebenwirkungen.
Die Rede ist von Isaria sinclairii, einem Pilz, von dem sich die traditionelle chinesische Medizin ewige Jugend verspricht. Ein japanisches Forscherteam von der Universität Kyoto nahm ihn Anfang der neunziger Jahre genau unter die Lupe und entdeckte, dass sein Wirkstoff Myriocin die körpereigene Abwehr stark hemmt. Sowohl in Experimenten mit Zellkulturen als auch bei lebenden Mäusen unterdrückt Myriocin die Immunreaktion – und zwar um das Zehn- bis Hundertfache stärker als Ciclosporin.
Mittlerweile haben Wissenschaftler das Extrakt des seltenen Pilzes durch ein synthetisches Analogon ersetzt, das im Laborjargon FTY720 heißt. Es reduziert die Anzahl der Abwehrzellen im Blut extrem: um bis zu 80 Prozent, wie erste Ergebnisse bei freiwilligen Patienten gezeigt haben.
Dabei werden die wehrhaften weißen Blutkörperchen aber weder an ihrer Vermehrung gehindert – wie es bei Ciclosporin der Fall ist – noch abgetötet. Vielmehr dirigiert FTY720 sie in die Lymphknoten und hält sie dort fest, ein Vorgang, den Wissenschaftler „homing“ nennen, „heimkehren“.
Die Immunzellen bekommen quasi Hausarrest verhängt. Sicher im Lymphknoten verwahrt, können sie keinen Schaden anrichten. Doch sie bleiben aktiv und vermehren sich eifrig weiter, sind also in ständiger Bereitschaft, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, sobald die Substanz abgesetzt wird. Das Immunsystem ist daher nach Beendigung einer FTY720-Therapie schnell wieder voll einsatzfähig, wie zahlreiche Versuche mit Mäusen, Ratten und anderen Labortieren bestätigt haben.
Auch die wenigen Abwehrzellen, die während der Behandlung im Blut verbleiben, sind nicht faul: Sie bilden eine Verteidigungsbasis, die den Organismus vor Infektionen schützt. Züricher Wissenschaftler aus dem Team des Nobelpreisträgers Prof. Rolf Zinkernagel beobachteten etwa, dass Mäuse trotz Einwirkung von FTY720 noch eine Immunreaktion gegen verschiedene Viren hatten. Der neue Wirkstoff schaltet das Immunsystem also nicht aus, sondern dirigiert es vielmehr um. Statt von einem „Immunblocker“ sprechen Wissenschaftler daher lieber von einer „immunmodulierenden Substanz“, die die Schutztruppen des Körpers von der Gefahrenzone Transplantat abzieht.
Das Konzept scheint aufzugehen. Weltweit haben viele Forschergruppen FTY720 getestet – an Mäusen, Ratten, Hunden und Affen mit transplantiertem Spendergewebe. Und egal ob Niere, Leber, Herz oder Haut – die Substanz verhinderte die Abstoßungsreaktion. Am effektivsten war der Schutz, wenn der neue Immunmodulator gemeinsam mit geringen Dosen des altbewährten Ciclosporin verabreicht wurde.
Wie aber sieht es beim Menschen aus? Auch hier haben Forscher gute Nachrichten. Klinische Studien mit freiwilligen Patienten, die eine neue Niere bekamen, haben ergeben, dass FTY720 gut verträglich ist und nicht toxisch auf das Körpergewebe oder gar das Spenderorgan selbst wirkt, wie es bei anderen Immunhemmern der Fall ist. Außerdem zeigte sich, dass die Substanz – insbesondere in Kombination mit anderen Hemmstoffen – auch beim Menschen das Einwandern von Immunzellen in das Transplantat und die daraus resultierende Abstoßungsreaktion verhindert.
Derzeit wird der Effekt des FTY720 bei einer größeren Patientengruppe untersucht. Dabei soll auch die geeignete Dosierung ermittelt werden.
Wie gut sich der immunmodulierende Wirkstoff tatsächlich für die Transplantationsmedizin eignet, werden erst Langzeitergebnisse zeigen. Doch die Ärzte des Heidelberger Transplantationszentrums, das an der FTY720-Studie beteiligt ist, sind zuversichtlich. „Unsere Patienten haben bislang sehr positiv auf die Substanz reagiert“, erklärt Schmidt. „Und wir beobachten weniger Nebenwirkungen als bei anderen Immunhemmern.“ Die Hoffnung, so Schmidt, liege darin, Ciclosporin in der Kombinationstherapie so weit wie möglich zu reduzieren, um Nebenwirkungen zu vermeiden – bei bestem Schutz für das lebensrettende Spenderorgan.
Bei Novartis – dem Hersteller von FTY720 – teilt man diese positive Einschätzung. „Aus gutem Grund haben wir die Produktentwicklung bis zur klinischen Phase III vorangebracht – der letzten wissenschaftlichen Station vor dem Zulassungsantrag für ein Medikament“, sagt Dr. Gilles Feutren, Leiter der Abteilung „Klinische Entwicklung Transplantation“ bei Novartis.
Während man sich in der Transplantationsmedizin noch über erste Erfolge freut, wird FTY720 bereits in weiteren Bereichen erprobt. Denn auch bei anderen Leiden würden Patienten ihren Immunzellen gerne Hausarrest verhängen. Etwa Menschen mit Autoimmunerkrankungen: Ihre Schutztruppen wenden sich gegen das eigene Gewebe, das sie fälschlicherweise als „fremd“ erkennen. Bei der Multiplen Sklerose, kurz MS genannt, richtet sich die Attacke beispielsweise gegen die Myelinscheiden, die Isolation der Nervenzellen. Dadurch entstehen schwere neurologische Schäden, die zu Seh- und Gefühlsstörungen oder Lähmungen führen.
Nun bringt FTY720 einen Hoffnungsschimmer. Die Überlegung: Wenn ein Großteil der Immunzellen in den Lymphknoten festgehalten wird, bleiben nur noch wenige übrig, die das Körpergewebe attackieren können.
Tatsächlich ist Derartiges im Tierversuch bereits gelungen. So behandelte etwa die Forschergruppe um Masayuki Fujino von der Universität Tokio Ratten, die an einer experimentell ausgelösten MS-ähnlichen Autoimmunerkrankung litten, erfolgreich mit dem immunmodulierenden Wirkstoff. Die FTY720-Gabe verhinderte bei allen Versuchstieren den Ausbruch der Krankheit. Novartis wagt nun einen Vorstoß in die Klinik. Derzeit wird die Wirksamkeit des potenziellen Medikaments bei einer kleinen Gruppe freiwilliger MS-Patienten untersucht.
Weitere Anwendungsgebiete sind denkbar: Autoimmunerkrankungen wie systemischer Lupus Erythematodes oder rheumatische Arthritis oder bestimmte Herzmuskelentzündungen. Dem Heilpilz der Chinesen könnte eine vielversprechende Karriere in der modernen Medizin bevorstehen.
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