Chirurgen sagen dem Diabetes den Kampf an – per Magen-Bypass. Doch keiner weiß, warum das funktioniert.
von Stefanie Reinberger, in bild der wissenschaft, 7–2012
Wenn Ralph Binder zum Essen eingeladen ist, muss er sich entscheiden: Lieber von allem ein bisschen – oder auf einen Gang verzichten? Auch die Schlacht am kalten Buffet mit übervollen Tellern ist für den 49-Jährigen Vergangenheit. Er hat sich im November 2010 unters Messer gelegt. Seitdem ist das, was von seinem Magen übrig ist – eine pflaumengroße Tasche –, direkt mit dem Dünndarm verbunden. Der Großteil des Magens, der Zwölffingerdarm und ein Stück Dünndarm sind von der Nahrungspassage abgekoppelt.
Binder ist Proband einer Studie der Universitätsklinik Heidelberg. Dabei prüfen Ärzte, ob ein Magen-Bypass hilft, Typ-2-Diabetes zu besiegen – Chirurgie statt Insulintherapie. Die Idee ist nicht neu. Alleine in den USA unterziehen sich jedes Jahr rund 200 000 Menschen einer Magen-Operation, um ihrem extremen Übergewicht ein Ende zu bereiten. Ein Mini-Magen erlaubt nur kleine Portionen. Wer weniger isst, nimmt ab und senkt seine Gesundheitsrisiken, das ist die Hoffnung.
Abspecken hilft gegen Alterszucker, wie zahlreiche Studien belegen. Das funktioniert auch per Magen-Bypass – und zwar wesentlich schneller als gedacht. Amerikanische Ärzte stellten überrascht fest: Oftmals verschwindet der Diabetes quasi über Nacht, lange bevor sich der Eingriff im Körperumfang bemerkbar macht. Das bestätigen auch Erhebungen wie die schwedische SOS-Studie (Swedish Obese Subjects Study), bei der sich mehr als 2000 Übergewichtige einer Magen-Operation unterzogen. Und Forscher der University of Minnesota in Minneapolis, USA, folgerten aus der Analyse von 621 Studien: Bei rund 87 Prozent der Operierten bessert sich die Zuckerkrankheit erheblich – 78 Prozent können sogar ganz auf Insulin und andere Medikamente verzichten.
BESSERUNG ÜBER NACHT
Liegt hier der Schlüssel zur Diabetes-Therapie der Zukunft? Das hofft zumindest Beat Müller, Sektionsleiter Minimalinvasive Chirurgie der Universitätsklinik Heidelberg. Er prüft in einer laufenden Studie, ob auch Diabetiker mit leichtem Übergewicht vom Magen- Bypass profitieren. Die Operation erfolgt per „Schlüsselloch-Chirurgie“ durch winzige Öffnungen in der Bauchdecke – für erfahrene Chirurgen ein Routineeingriff, wie der Arzt betont.
Die Heidelberger operierten im vergangenen Jahr 20 Freiwillige, darunter Ralph Binder. „Bei den meisten war der Diabetes schon am nächsten Tag verschwunden“, sagt Studienleiter Beat Müller. „Der Großteil kann ganz auf Insulin verzichten, bei vier Probanden reduzierte sich der Bedarf um mehr als die Hälfte.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kam im letzten Jahr eine Studie in Taiwan.
Diethelm Tschöpe, Klinikdirektor am Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen, ist von den Ergebnissen beeindruckt. „Dennoch muss man die Kirche im Dorf lassen“, warnt er. „Die Operation als neue Therapie für alle Diabetiker zu propagieren, wäre zu diesem Zeitpunkt völlig fehl am Platz.“ Ein Magen-Bypass ist ein massiver Eingriff in die menschliche Anatomie, der mit Risiken einhergeht. Und: Wird ein Teil des Magen-Darm-Traktes abgekoppelt, kann die Aufnahme von Vitaminen und Mineralien leiden. „Den Eingriff sollten daher nur spezialisierte Zentren vornehmen, die auch langfristig eine gute Nachversorgung gewährleisten“, sagt Tschöpe.
Demgegenüber stehen die gravierenden Langzeitschäden einer Diabetes- Erkrankung. Bekommt ein Patient seinen Zucker nicht in den Griff, können Blutgefäße verstopfen. Schäden an Augen, Nieren und Nervenzellen drohen ebenso wie der Verlust von Gliedmaßen. Das Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt steigt.
Noch ist weitgehend unklar, wie der Magen-Bypass den Blutzucker beeinflusst. „Es ist fast, als ob der Diabetes von Zauberhand verschwindet“, meint Müller. Allein von der Kalorien- und Gewichtsreduktion rührt der Effekt sicher nicht her. Dazu stellt er sich zu rasch ein.
Sehr wahrscheinlich verändert sich die Hormonproduktion in Magen und Dünndarm. Das legen Experimente mit Ratten und erste Beobachtungen bei Menschen nahe. So sinkt das Niveau des „Hungerhormons“ Ghrelin. Es wird am Magengrund ausgeschüttet, wirkt appetitanregend und hemmt die Insulinproduktion. Umgekehrt entsteht im Dünndarm mehr GLP1 (glucagon-like peptide 1), das die Sensibilität der insulinproduzierenden Zellen erhöht und die Ausschüttung des Hormons ankurbelt. Außerdem drosselt es den Insulin-Gegenspieler Glucagon und macht den Körper empfänglicher für Insulin. „Es ist, als ob man den Fuß von der Bremse nimmt und den Teufelskreis Diabetes unterbricht“, sagt Müller. Sicher sei aber, dass noch weitere Mitspieler beteiligt sind.
ZIEL: HEILUNG OHNE OPERATION
Der Forschungsbedarf ist groß, findet Tschöpe: „Wenn wir wissen, wie der Magen-Bypass den Stoffwechsel verändert, bekommen wir wichtige Hinweise zur Krankheitsentstehung.“ Und das führt möglicherweise zu neuen Ansatzpunkten für die Therapie – auch ohne operativen Eingriff. Bis dahin will man in Bad Oeynhausen Patienten mit einem Kunststoffschlauch im Darm helfen abzunehmen und gegen Diabetes anzugehen. Der Schlauch soll Nahrungsaufnahme und Hormonhaushalt beeinflussen. Müller prüft derweil, ob die Chirurgie der Insulintherapie zumindest bei einigen Patienten überlegen ist. Ab Mai 2012 startet eine Studie mit 400 Freiwilligen – 200 werden operiert, 200 mit Insulin behandelt –, um den Therapieerfolg über einen längeren Zeitraum zu vergleichen.
Ralph Binder ist jedenfalls zufrieden mit seiner Entscheidung für die Magenoperation. „Jetzt gibt’s für mich halt Frauenportionen“, sagt er lachend. Dafür muss er kein Insulin mehr spritzen und sich bei körperlichen Aktivitäten nicht länger vor Unterzuckerung fürchten, etwa beim Gleitschirmfliegen. Auch die Angst vor Diabetes-Spätfolgen ist vorbei. „Und seit ich weniger esse, gönnen meine Frau und ich uns Nahrungsmittel von höherer Qualität – das ist auf jeden Fall ein Gewinn.“
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